Die Avocado
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Wieder mal war der Arbeitstag lang. Wieder mal fühlte sich das Warten auf die S-Bahn, die ohne Ankündigung, Ansage, Grund oder sonst irgendetwas 19,5 Minuten zu spät kam, noch länger an. Naja ist ja auch Winter. Mit Minusgraden, Schnee und Glätte. Kennt man ja dank des Klimawandels kaum noch. Wahrscheinlich ist die Bahn ausgerutscht und in der Leitstelle sitzt keiner, weil alle mit Schnupfen zu Hause sitzen.
Egal.
Nach einer recht unereignisreichen langwieirigen Fahrt gen Süden näherten wir uns endlich meinem Heimatbahnhof. In Gedanken schon völlig im Feierabendmodus, der warmen Wohnung und meinem gemütlichen Stammplatz vor dem Rechner entgegenfiebernd1, fiel mir plötzlich ein: "Scheiße. Du hast zu Hause kein Brot mehr und nur noch zwei Wraps."
Hmpf. Ok. Also erstmal noch schnell zu Lidl2.
Nach der Rutschpartie vom Bahnhof zum Supermarkt, schleppe ich mich durch die automatische Glastür in die Wärme.
Direkt nach dem Reinkommen erblicke ich sie zu meiner Rechten: AVOCADOS.
Gestern erst hatte ich mir megageile Guacamole gemacht und mit Tortilla-Chips in mich hinein geschaufelt. Heute morgen den Rest in meine burrito-artigen Wraps gemacht und mich dabei schon geärgert, dass sie alle ist.
Ich schaue auf den Preis: 99 Cent steht da. Ich nehme mir eine, während ich noch auf das rote Preisschild gucke und weiterlese: Lidl-Plus Preis 99 Cent und klein daneben: 1,69 Euro.
Bitte was? entfährt es mir. Die wollen 70 Cent mehr nur weil ich deren blöde App nicht haben will? Das ist doch Diskriminierung gegenüber Smartphonelosen und Datenschützern. Sowas sollte verboten werden.
Das ist doch richtig kacke. Ich will auch nur 99 Cent für eine Avocado zahlen müssen.
Seufz.
Ich stecke mir die Avocado in meine rechte Jackentasche und ziehe mein Smartphone aus meiner linken Hosentasche. Mein Smartphone navigierend schlendere ich durch den Laden.
Erstmal entsperren. Meinen Fingerabdruck erkennt das blöde Teil mal wieder nicht. Also keinen von meinen Fingerabdrücken. Ich habe inzwischen Daumen und Zeigefinger beider Händer 3 mal angelernt, aber scheinbar ändern sich meine Fingerabdrücke innerhalb von wenigen Tagen so sehr, dass sie unerkennbar sind.
Also tippe ich meine viel zu kurze und viel zu einfache PIN ein.
Erstmal das Profil wechseln, schließlich soll der Schund ja nicht zu den "wichtigen"4 Apps, sondern wenigstens ein wenig abgeschirmt sein.
Ich werde fast angerempelt, da ich natürlich völlig im Weg stehe und auf mein Smartphone starre. Ich schaue kurz auf und sehe vor mir das Brotregal. Warum war ich nochmal hier? Ach ja, Brot wollte ich holen. Und Wraps!
Ich stapele beides auf meinen rechten Arm, denn in der linken ist das Telefon5.
Ich widme mich wieder meiner Aufgabe, meinem Quest, meiner Berufung, diesem Scheißunternehmen 70 Cent weniger für eine Avocado zu bezahlen, als sie es von so einem App-losen wie mir verlangen.
Ich starte Aurora. Und... Bekomme eine Fehlermeldung. Ich tippe auf einen der Buttons um eine neue Session zu bekommen. Hoffentlich ist es der richtige. Mir fällt mein Smartphone fast aus der Hand. Wie die meisten Mobiltelefone heutzutage, ist es viel zu groß um es entspannt einhändig bedienen zu können, aber auf meinem rechten Arm balancieren neben Wraps und Brot inzwischen auch Müllbeutel und eine Packung Süßigkeiten.
Nach dem dritten Versuch klappt es endlich und ich suche nach der verkackten Lidl Plus App. Ich drücke auf installieren und starre auf den Download-Balken der verdächtig lange auf 0% stehen bleibt.
Was brauche ich eigentlich noch? Ach ja Tortilla-Chips kann ich auch gleich mitnehmen.
Als ich wieder auf den Bildschirm in meiner linken Hand blicke, ist die Installation abgeschlossen. Na gut starten wir das scheiß Ding mal und gucken, was ich alles an Daten preisgeben muss, bis ich endlich 70 Cent weniger bezahlen darf.
Nach dem Starten der App sehe ich nur ein Logo und am unteren Bildschirmrand einen Button mit der Aufschrift "Choose your country...". Am unteren Rand ist immer am beschissensten für die Einhandbedienung. Aber ich bekomme es hin und der Bildschirm wird weiß. Nach wenigen Sekunden kommt am unteren Rand ein roter Streifen hinzu. Mit der Aufschrift "Connection error".
Och nöö!
Inzwischen bin ich im Chips-Regal angekommen. Welche der 3 Sorten waren noch mal die ohne Süßmolkenpulver? Ich finde die Gesalzenen und schmeiße sie auf den meterhohen wankenden Berg an Lebensmitteln, der sich inzwischen zwischen meinem Körper und meinem rechten Arm gebildet hat.
Irgendwas fällt runter...
Scheißegal. Wenn ich mich jetzt bücke um das aufzuheben, fällt alles runter. Ein bisschen Schwund ist halt immer.
Hmm. Warum kann die App sich nicht verbinden? Ach ja. Firewall6. Also erlauben wir diesem Werbe-Dreck, der laut Aurora mindesten 9 verschiedene Tracking-Frameworks intus hat, sich über meine teuer bezahlten Mobilfunkdaten mit dem Internet zu verbinden. Natürlich könnte ich auch das Lidl-WLAN nutzen, aber nee. Einfach nee.
Ich starte die App neu. Gleiches Bild, gleicher Fehler. Mist.
Scheiß Technik. Versagt immer dann, wenn man sie gerade braucht.
Frustriert schiebe ich meinen Taschencomputer in seine/meine Tasche7 und fange lässig die Katjes Vitaminis die bei der Aktion vom Gipfel des Berges gerutscht sind.
Mir kommt ein Gedanke: Ich könnte die Avocado auch einfach klauen. Dann hätte ich nicht nur 70 Cent gesparrt, sondern sogar 1 Euro und 69 Cent!
Sofort steigt in mir der Adrenalinspiegel. Nicht sehr hoch, aber er ist ein klein wenig höher als vorher. Mein Puls ist vermutlich um 2-3 Schläge pro Minute gestiegen. Ich denke zurück an die Zeiten meiner Ausbildung, als ich gelegentlich Lebensmittel klauen musste, weil kein Geld da und der Dispo völlig ausgeschöpft war8.
Ja, nee. Dit kannste jetzt nicht bringen. Du bist Mitte 30 und hast nen gutbezahlten... naja einen bezahlten Job. Könntest die Avocado auch einfach zurücklegen, wenn sie dir zu teuer ist. Und außerdem ist die eigentlich immer noch viel zu billig, dafür dass die aus sonstewo hier nach Deutschland verschifft wurde. Solltest lieber in einen Bio-Laden gehen und das dreifache bezahlen.
Na gut Zurücklegen ist auch keine gute Idee. Mit all dem Zeug, das sich in meinem Armen gesammelt hat, ist es fast unmöglich, an die Avocado in meiner Jackentasche zu kommen. Außerdem müsste ich zurückgehen.
Genervt vom Tag, vom Wetter, der Welt, dem Kapitalismus und Lidl Plus stelle ich mich in die Kassenschlange, die natürlich mal wieder durch den halben Laden reicht.
Durch die viel zu laute Musik auf meiner Kopfhörer höre ich eine Lautsprecherdurchsage. Also ich höre, dass es eine Lautsprecherdurchsage gibt. Was die Durchsage durchsagt höre ich nicht. Aber augenscheinlich wird eine weitere Kasse aufgemacht, denn wie die armen Pferde bei einem Pferderennen sprinten plötzlich fast alle Leute vor mir zu einer anderen Kasse und stellen sich dort in einer völlig anderen Reihenfolge an.
Na gut der Vergleich mit dem Pferderennen hinkt. Da geht es wahrscheinlich deutlich geordnerter zu. Das Ganze erinnert eher an die Black Friday Bilder aus den Nachrichten.
Ich bleibe natürlich stehen, da ich aus Erfahrung weiß, dass es irgendwo zwischen 1 und 10 Minuten dauert, bis endlich ein*e Mitarbeiter*in zur Kasse vorgedrungen ist und loslegen kann.
Außerdem kann ich auch warten. Ein paar Minuten früher aus dem Laden in die Kälte zu kommen, würde diesen nervigen Tag auch nicht besser machen.
Nach einer halben Ewigkeit kann ich endlich meine Einkäufe auf das Band legen. Endlich die Arme frei. Endlich kann ich mein Smartphone aus der Tasche ziehen und diesen nervigen Song skippen, den Spotify schon seit Ewigkeiten immer wieder in meine Playlist packt, obwohl ich ihn immer skippe.
Fröhlich mit dem Kopf wippend lausche ich den Klängen von Machine Head.
Die Frau vor mir will Kippen kaufen. Natürlich. Und natürlich sind die an dieser Kasse natürlich ausverkauft. Also geht die Verkäuferin zu ihrer Kollegin und anstatt direkt mit den Krebsstängeln zurück zu kommen, quatschen sie erstmal eine gefühlte halbe Stunde darüber, wer wann Pause macht und wo Cindy eigentlich ist. Die sollte doch schon längst da sein...
Ich drehe die Musik lauter.
Ich bin dran. Freundlicherweise nehme ich die Kopfhörer ab und lasse meinen Lippen ein knurriges "N'abnd" entweichen. "Haben Sie Lidl Plus?" fragt die Verkäuferin während sie schon das meiste meines Einkaufes innerhalb von 2 Sekunden über den Scanner geschubst hat. "Was?" frage ich aus Reflex, da ich wie so oft nicht damit gerechnet habe, das mir irgendjemand irgendeine Frage stellen wird. "Lidl Plus?" sagt sie etwas lauter und deutlicher. "Nee." knurre ich verbittert. "Außerdem weißt du ganz genau, dass ich das nicht hab. Du kennst mich. Ich kaufe hier seit einem halben Jahrzehnt 2-3 mal wöchentlich ein und nie habe ich Lidl Plus" denke ich mir.
Na gut ich hätte es ja fast gehabt. Aber das kann sie ja nicht wissen!
Während die Verkäuferin in nahezu Lichtgeschwindigkeit die Einkäufe über den Scanner zieht, komme ich wie immer überhaupt nicht hinterher diese in meinen Rucksack zu schmeißen.
"22 Euro 63 bitte." sagt sie, während dreiviertel der Sachen noch neben meinem Rucksack liegen, obwohl ich so schnell gepackt habe, wie noch nie.
Bitte was? 23 Euro? Das sind 46 Mark! Das sind 92 Ostmark! Das sind 460 Ostmark auf dem Schwarzmarkt!9
Mürrisch zücke ich meine Kreditkarte und zahle.
Auf dem Weg nach draußen stopfe ich genervt und deprimiert meine Hände in meine Jackentaschen.
Was ist denn das in meiner rechten Tasche?
Oh. Eine Avocado.
Die gab es heute wohl umsonst.
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Manch einer könnte denken: "An den Schreibtisch? Du kommst doch gerade aus dem Büro". Ja, aber zu Hause ist das anders. Zu Hause ist der Stuhl vor meinem Schreibtisch mein Wohlfühlplatz. Andere Leute haben eine Couch, einen Sessel oder sonst irgendwas, wo sie sich hinsetzen um zu entspannen. Ich verbringe den Großteil meiner Freizeit an meinem Schreibtisch in meinem Bürostuhl. Und der Stuhl hat auch noch den gleichen Namen wie ich. Nein, das war nicht meine Idee, sondern die Idee von einem großen schwedischen Möbelhaus. ↩
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Ja, ick weiß was du jetzt denkst: "[...] nicht zu Lidl. Die Arbeitsbedingungen da sind unter..."3. Aber der liegt halt fast auf dem Weg. Wohne halt in einer armen Gegend von Berlin. Hab 3 Lidl-Filialen die ich zu Fuß schneller erreiche als jeden anderen Supermarkt. ↩
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Kling, Marc-Uwe (2009). Das Känguru von gegenüber. In Die Känguru-Chroniken: Ansichten eines vorlauten Beuteltiers. Ullstein. ISBN 978-3-548-37257-0 ↩
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OpenSudoku, Obstsalat, Glider, AntennaPod... ↩
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Ich glaub telefonieren tu ick mit dem Ding am wenigstens. Ich finde man sollte die Dinger langsam mal umbennen. Wer telefoniert denn heutzutage noch mit dem Smartphone? Für mich ist das ein mobiler Computer, der von der Hardware mehr Leistung hat, als die meisten die ich zu Hause habe, aber dessen Software so blöde ist, dass es sich viel langsamer anfühlt und viel viel schlechter bedienen lässt. ↩
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Also es ist meine linke Hosentasche. Aber da ich nur er dort reinkommt ist es halt auch seine. ↩
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Böse Menschen denken jetzt bestimmt sowas wie: "Der Junge hat das Geld doch bestimmt für Drogen verprasst". Diesen Menschen möchte ich eines sagen: Ihr habt Recht. Als Süchtiger brauchte ich damals die Drogen und ich weiß nicht ob ihr es schon mal probiert habt, aber Drogen klauen ist meistens riskanter als Lebensmittel in einem Supermarkt. ↩
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Dieser Witz wurde geklaut aus: Kling, Marc-Uwe (2011). Früher war alles 2D. In Das Känguru-Manifest. Ullstein. ISBN 978-3-548-37383-6 ↩